Die Schule in der Wende – Zeitzeugeninterview mit Lehrerin vom Ernst-Abbe Gymnasium

von am 6. Oktober 2020

„Ein junger Mensch muss gerade wachsen und dazu braucht er Stütze und Halt, nicht nur in Form von Leistungsbewertung, sondern individuell in jeder Lebenssituation in der er als Mensch in Frage gestellt und gefordert wird.“ (Angela Stübig, Lehrerin)

Am 9. November 1989 wurde die Mauer, die Deutschland trennte, zum ersten Mal geöffnet – sofort und unverzüglich.

Wie Angela Stübig, Lehrerin für Deutsch, Geschichte und Religion am Ernst-Abbe-Gymnasium in Eisenach in einem Interview erklärte, bedeutete die Grenzöffnung für sie die lang ersehnte Freiheit. Frau Stübig ist nun seit ca. 38 Jahren im Schuldienst, sie erlebte die Wendezeit ganz nah mit und erzählte in einem Zeitzeugengesprächs für unseren Sender, wie schwer es war vor 1990 als Lehrerin zu arbeiten und wie sich in der Zeit der Wende das Schulsystem von Grund auf veränderte. Leonie Wagner absolvierte ein Praktikum im Wartburg-Radio und hat sich bei einem Zeitzeugengespräch mit Frau Stübig über deren Erfahrungen ausgetauscht:

Bitte erzählen Sie uns zu aller erst vom Schulalltag in der DDR ?

Jede Woche gab es als erstes ein Wochenappell. Einschwören auf die Woche mit entsprechenden Ansagen Vorgaben. Dadurch wurde das Kollektivbewusstsein der Schüler geschärft. Ansonsten hieß es zu Stundenbeginn und Ende stramm stehen für „Frieden und Sozialismus seid bereit“. Am Nachmittag fanden Pioniernachmittage und FDJ Veranstaltungen statt.

Welchen Einfluss hatte die Regierung auf die Schul- bzw. Unterrichtsführung?

Jeden.

Das Studium der Geschichte war schon nach dem Altertum ganz klassisch ausgelegt auf die Geschichte der Arbeiterbewegung und auch die Deutschaufsätze brauchten immer eine politische Ausrichtung mit Stellungnahme am Ende.

Es konnte auch passieren dass die Patenbrigade oder der Direktor selbst im unterricht oder beim Elternabend saß und wenn es nicht politisch genug war wurde man zur Verantwortung gezogen.

Gab es da so etwas wie verbotene Themen?

Verboten waren nicht mal nur Themen, sondern auch schon nur mit einer Plastiktüte aufzukreuzen, die zum Beispiel Westverwandte hinterlassen hatten bei einem versuch ein Päckchen zu schicken. Ich habe mitbekommen wie Schüler meiner klasse vom Direktor niedergemacht wurden wenn sie in irgendeiner form Westwerbung bei sich trugen und mussten das verschwinden lassen.

Wie empfanden sie die Zeit vor der Wende?

Die zeit an der POS war für mich eine art Prüfstein. Ich hatte dort wunderbare Schüler mit denen ich bis heute noch Beziehungen pflege und andererseits wurde dieser Widerstand zwischen dem was man persönlich als erfahrung hatte und dem was gesellschaftlich als Druck auf einem lastete für mich immer unerträglicher.

Als Lehrer in DDR-Zeiten war man eigentlich nur ein funktionierendes Werkzeug.

Der Tag der Wende

Wir rechnen mal zurück, der 9.11.1989 war ein Donnerstag, also eigentlich ein ganz normaler Schultag…oder etwa nicht?

An diesen Tag speziell kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiß aber noch, dass der Unterricht getragen war von einer großen Begeisterung. Es taten sich ganz neue Türen auf. Zum ersten mal konnten wir Missstände in der Schule offen klären.

Es wurde ganz offiziell ein neuer Direktor gewählt, es wurden die Weichen gestellt für das neue Schulleben und da wollte ich dringend dabei sein.

Hatten sie Angst vor dem was jetzt auf sie zukommen könnte?

Nein. Ich habe das als unglaublich beeindruckend und ergreifend empfunden. Weil ich gespürt habe, wie viele Menschen diese Sehnsucht nach Freiheit in sich tragen und auch bereit waren dafür auf die Straße zu gehen. Ein ganz neues gemeinschaftsgefühlt hat sich für uns herauskristallisiert, die Hoffnung auf etwas völlig Neues und Befreites, unkontrolliertes, das wir selbst gestalten könnten. Das hat uns eigentlich total selbstbewusst werden lassen und uns die angst genommen.

Wie ging es für sie speziell dann weiter?

Danach hat sich mein Leben und das meiner Familie absolut gewendet, das kann man wirklich so sagen. Ich bin 1991 ans Gymnasium in Ruhla gewechselt. Diese Zeit war geprägt von ganz viel Neuem. Ich habe den Religionsunterricht für mich als drittes Fach als etwas ganz Kostbares und Neues entdeckt was ich bis heute auch gerne unterrichte.

Ich habe neue Kollegen kennen gelernt, die ihrerseits ganz viele Ideen mitbrachten. Wir hatten nun die Chance den Schülern dieses Bewusstsein zu geben „Du kannst dich in jedem Fall überall informieren. Es ist dir alles offen. Bilde dir einen eigenen Standpunkt. Widersprich. Diskutiere, kontrovers wenn´s sein muss. Aber hab einen eigenen Standpunkt und lebe in dieser Welt und lebe dein leben. Finde deinen Platz darin.“ Ich habe gemerkt, wie toll es eigentlich ist, Lehrerin zu sein.

Denken sie dass auch heute noch Unterschiede zwischen Ost und West gemacht werden?

Ich denke wir sollten das Bewusstsein für diese Wende absolut offen halten und dieses Geschichtsbewusstsein „Was war die DDR? Was war das für ein Staat?“ sehr nüchtern und sachlich betrachten.

Natürlich gibt es auch positive Erinnerungen, aber dieses System darf nicht so bewertet werden, als wäre da noch irgendetwas gutes dran, denn es war ein Unrechtsstaat und den hat man zu spüren bekommen.

Warum sollten Schüler der heutigen Generation unbedingt davon erfahren, was damals in Deutschland los war?

Weil es in weiten Teilen ein Stück ihrer Familiengeschichte ist. Und ich glaube wir Menschen sind einfach so, dass wir wissen wollen, woher wir kommen und was unsere Familie und unser Vaterland geprägt hat und wohin gehe ich mit diesem wissen über meine Vergangenheit. Wo stehe ich? Was will ich verändern?

Was können wir alle dafür tun, um uns in diese Richtung weiterzubilden?

Ich denke es gibt so viele Informationsquellen. Angefangen von Dokumentationen im TV, Großeltern, Urgroßeltern. Andererseits gibt es bsp ganz in der nähe die Stasihaftanstalt Andreasstraße in Erfurt. Dort gibt es ganz tolle Leute, die Schülergruppen betreuen.

Wir haben auch kompetente Leute, die gerne an die Schulen kommen und sich den Fragen der Schüler stellen.

Eine letzte Frage:

Sie als Geschichtslehrerin können das vermutlich am besten einschätzen:

Was würde denn so im Zeugnis der DDR stehen?

Da würde stehen: Die DDR, ein scheindemokratischer Staat mit einer Verfassung, die keineswegs etwas mit dem Leben der Menschen in diesem Staat zu tun hat und ein Staat, der dazu da war, dass Menschen sich verstellt haben, sich gebeugt haben, verfolgt wurden und wenn sie ihren Willen zu Veränderung gezeigt haben sofort mit furchtbaren Bestrafungen rechnen mussten, die bleibende seelische Verletzungen zur folge hatten.

Das bescheinigt die Auswirkungen eines solchen Staates.

Definitiv durchgefallen.

Wir haben erfahren dass das Leben in der DDR gerade für Schulen eine harte Nervenprobe war. Nicht nur für junge Menschen, die in dieser Zeit zur Schule gingen, sondern vor allem auch für die Lehrer, die sich an strenge Unterrichtskonzepte und Regeln zu halten hatten.

Nach dem Interview hatte die Autorin das Vergnügen, sich noch eine ganze Weile mit Frau Stübig unterhalten zu dürfen. Sie erzählte von Stationen auf ihrem Lebensweg, dass sie zum Katholismus konvertierte und die Nähe zu Gott wieder fand und davon dass die 90er Jahre die besten Jahre waren, da sie so von Optimismus und Aufbruchsstimmung besehlt waren.

Dazu die Autorin: „Ich möchte mich noch einmal herzlich für die Erfahrung dieses Interviews bei Frau Stübich bedanken. Meiner Meinung nach ist sie eine wundervolle, inspirierende Persönlichkeit und ich finde wir dürfen uns glücklich schätzen, dass Jugendliche unserer und folgender Generationen von Lehrern wie ihr unterstützt und gefördert werden. Lehrer, die sich nicht nur hinter Vorschriften und Lehrplänen verstecken, sondern ebenso den Mund aufmachen um für die Werte ihrer Schüler einzutreten und darum kämpfen dass junge Menschen wie wir das Wissen erlangen, welches jeden von uns auf seinem persönlichen Lebensweg voran bringt.“

Die Sendung ist am Mittwoch, dem 7. Oktober um 14 Uhr bei uns im Programm zu hören. Der Radiobeitrag kann in der Audiothek nachgehört werden.

Geschrieben von Leonie Wagner, Wartburg-Radio

Im Bild: Leonie Wagner im Gespräch mit Angela Stübig vom Ernst-Abbe-Gymnasium


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